Gender-Stereotypen in AAA-Games: Eine langsame Revolution

Die Hauptfiguren einiger der erfolgreichsten Videospiele der letzten Jahre waren Frauen und hatten dabei sogar Charakter und nicht nur grosse Brüste. Das ist noch immer nicht ganz selbstverständlich, aber es ändert sich was in der AAA Game Industrie.

Im März dieses Jahres ist GamerGate wie ein altes Gespenst in seiner zweiten Inkarnation wieder auferstanden. GamerGate war eine gewaltige Belästigungskampagne gegen Frauen, POC und queere Entwickler aus dem Jahr 2014, bei der sich die Industrie nicht oder nur halbherzig um den Schutz ihrer Entwickler bemüht hat. Nun, zehn Jahre später, war die Bewegung von GamerGate 2.0 deutlich kleiner, und die Reaktion der Industrie deutlich entschlossener: Als eine Gruppe reaktionärer Gamer begann, die Angestellten des Narrationsspezialisten Sweet Baby Inc zu belästigen, stellte sich die Industrie hinter die Betroffenen. Der „Anti-Wokeismus“ schafft es heute nicht mehr in den Mainstream.

Der Anteil weiblicher und LGBTQUIA+ Entwickler nimmt stetig zu (Statista, 2022)

Games sind heute diverser. Dieser Wandel kommt nicht von ungefähr: Der Anteil weiblicher Entwicklerinnen lag 2021 bei etwa 30%, der Anteil von nonbinären, genderqueeren oder transgender Entwicklerinnen bei etwa 8%. Das zeigt sich in den Spielen. Im Spiel The Last of Us 2 aus dem Jahr 2020 beispielsweise haben wir mit Ellie und Abby zwei Frauen in den Hauptrollen. Ellie taucht dabei bereits 2014 im Add-On „Left Behind“ auf, dessen Darstellung der romantischen Beziehung mit der gleichaltrigen Riley bis heute als gutes Beispiel für queere Darstellungen in Spielen gilt. Die Organisation Women in Games setzt sich für Frauen in der Industrie ein. Es erscheinen heute also mehr Spiele von Frauen und queeren Entwicklerinnen, die ein neues und breiteres Publikum ansprechen. Heute sind etwa die Hälfte aller Spieler*innen weiblich.

Damit sind Games heute im Mainstream angekommen, auch wenn das in gewissen Kulturredaktionen der Schweiz noch nicht angekommen ist. Über die Hälfte der Schweizer spielt, Erwachsene eingeschlossen. Deshalb sehen wir auch mehr erwachsene Inhalte in Spielen und nicht nur auf ein pubertierendes Publikum zugeschnittene Inhalte. Games können sich heute gesellschaftlichen Diskussionen nicht mehr entziehen.

Der Wandel geht nicht in allen Bereichen gleich schnell voran

Noch im Jahr 2012 schrieb beispielsweise die bedeutende (queere) amerikanische Game Designerin Anna Anthropy, dass “seit digitale Spiele existieren, […] eine kleine Gruppe Menschen deren Produktion [dominiert]: Im allgemeinen weisse Ingenieure” oder anderswo “Ich habe Mühe überhaupt ein Spiel zu finden […] das meine eigene Erfahrung [als queere Frau] abbildet.” (Anthropy, 2012) Mit wenigen Ausnahmen hatte Sie damals recht. Ausser Roberta Williams, der Schöpferin von King’s Quest und der Danielle Bunten Berry die mit M.U.L.E. einen Klassiker erschaffen hat, kommen mir wenige bekannte Frauen in den Sinn. 

Aveline de Grandpré, eine der wenigen Frauen im Lead bei einem AAA Game in Assasins Creed III – Liberation.

Während wir heute bei der Gender Repräsentation weiter sind, ist dieses Bild in anderen Bereichen durchwachsener: In Punkto Herkunft hat sich nicht ganz so viel getan, aber auch hier gibt es Verbesserungen. Wir sehen erste schwarze, female Leads wie zum Beispiel in Ubisoft’s Assassins Creed: Liberation oder Clementine in The Walking Dead.

Bei der Darstellung von diversen Körperbildern sieht die Situation aber noch unbefriedigend aus. Es kommt vereinzelt zu positiven Darstellungen von Behinderungen. Früher ging es darum, dass Behinderung geheilt werden muss, nun sehen wir bessere Beispiele. Octane, ein Character in Apex Legends verliert seine Beine, und hat Prothesen. Er geht im Spiel damit locker um, und ist sogar der schnellste Character im Spiel. Die Darstellung von Neurodivergenz kennt noch weniger Beispiel In Hellblade: Senua’s Sacrifice kämpft die Protagonistin mit Psychosen, und das Studio Ninja Theory hat dafür gemäss eigenen Angaben viel Recherche betrieben, um dies realistisch darzustellen. Es fehlen aber weiterhin realistische Darstellung z.B. von Autismus. Nur bei der Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen hat sich sehr viel verändert: Es gibt heute spezialisierte Controller für Tetraplegiker, Accessibility Optionen für Sehbehinderte, und so weiter. Diese sind vor allem in AAA Spielen häufiger zu finden.

In der Schweiz ist die Games Industrie noch jung und klein. Aber wir haben hier eine relativ gute Durchmischung. Die Swiss Game Developers Association hat mit Alice Ruppert dieses Jahr beispielsweise eine Frau zur Präsidentin gewählt, Philomena Schwab ist die Aushängefigur des lokalen Game Designs und mit Grimoire Groves wurde soeben das Spiel der nonbinären Entwicklerin Tabea Iseli zum Most Anticipated Swiss Game gewählt. Pro Helvetia bietet seit letztem Jahr das Programm She got Game an, bei dem gezielt junge Game Entwicklerinnen gefördert werden.

Positive Beispiele finden sich heute leichter – vor allem dank Indie Games

Neben den oben erwähnten Ellie und Abby aus “The Last of Us 2” gilt Aloy aus “Horizon: Zero Dawn” als ein vielschichtiges, selbstbestimmtes und nicht-sexualisiertes Vorbild für Frauenfiguren. Im Spiel “Baldur’s Gate 3” können Spieler romantische und sexuelle Beziehungen mit ihren Begleitern eingehen, unabhängig vom Geschlecht der Hauptfigur. Das wäre noch 2010 undenkbar gewesen. In AAA-Games traten größere queere Charaktere erst mit Spielen wie “Mass Effect” oder “Dragon Age” auf. Seit 2020 haben wir mit Tyler Ronan in Tell Me Why sogar den ersten trans* Hauptcharakter in einem AAA-Spiel. Auch bei auf Kinder ausgerichteten Spielen sehen wir Verbesserungen. Spiele wie “Bugsnax” gehen das Thema Gender unverkrampft und kindgerecht an.

Lizbert and Eggabell in Bugsnax sind vermutlich lesbisch. Das ist aber eigentlich egal, wird aber nirgends erklärt. Es ist einfach so, und damit eine kindgerechte, natürliche Darstellung.

Die Indie-Szene macht es den AAA-Studios schon lange und mit großem Erfolg vor, sodass die großen Studios dies nicht ignorieren können: Spiele wie Undertale, wo die eigene Spielfigur konsequent mit they-Pronomen angesprochen wird und auch queere Charaktere vorkommen; Dream Daddy: A Dad Dating Simulator, bei dem man als alleinerziehender Vater mit Tochter andere Väter daten kann; “Spiritfarer”, bei dem wir mit Stella eine dunkelhäutige Heldin spielen; Later Daters, ein Dating-Simulator mit Protagonisten aus einer Rentnergemeinschaft; Celeste, bei dem die Heldin Madeline metaphorisch für ihre Transition einen Berg erklimmt; Psychotic Bathtub, ein Spiel von Natasha Sebben aus Zürich, das sich noch in Entwicklung befindet und sich mit der psychotischen Störung der Protagonistin beschäftigt. Und das sind nur einige Beispiele.

In den obigen Beispielen sind weibliche Charaktere mit Handlungsfähigkeit ausgestattet und richten sich in keiner Weise nach dem Male Gaze. Sie sind eigenständige, selbstbestimmte Figuren und lösen sich damit vom “Femininity as an Accessory”-Stereotyp, bei dem Weiblichkeit als Accessoire zum männlichen Standard betrachtet wird. Ein Beispiel dafür ist Dixie Kong: Sie ist klar weiblich, was erst verdeutlicht, dass Donkey Kong oder Diddy Kong – ohne solch ein Accessoire – männlich sein müssen. Heute sind weibliche Charaktere nicht mehr die Damsel in Distress, die Freundin oder Prinzessin, die vom männlichen Helden gerettet werden muss. Vielmehr sind sie eigenständige Figuren, die sich nicht dafür rechtfertigen müssen, warum sie die Heldinnen sind.

Leider sind gute weibliche Hauptfiguren in AAA-Spielen auch heute noch häufig von Männern geschrieben, was dazu führt, dass sie oft in das alte, männlich normierte Heldennarrativ fallen. Strong Female Leads werden oft als toughe, starke und gewalttätige Frauen dargestellt. Daran müssen die großen Studios noch arbeiten. Gerade japanische Studios zeigen noch viele altmodische Rollenbilder. Fans wünschen sich schon lange, dass auch Zelda gespielt und nicht nur gerettet werden kann.

Die kreative Energie stammt heute klar von Indies. Die AAA-Industrie ist in puncto Kreativität ins Hintertreffen geraten: Heute können unabhängige Spielentwickler einfacher ohne Einmischung eines großen Publishers ihre Spiele auf den Markt bringen. Auch die Spielentwicklung ist mit Tools wie Unity oder Game Maker nicht mehr nur Profis vorbehalten. Deswegen finden auch kleinste Spiele von Hobbyentwicklern mit frischen Perspektiven über itch.io ihr Publikum. Game Designer – auch die großer Studios – suchen sich bei solchen Spielen Inspiration.

Spieler*innen wollen Repräsentation.

Wir wissen heute, dass Spieler*innen Held*innen spielen wollen, die sie repräsentieren. Denn Games unterscheiden sich von Filmen, die uns erlauben, eine Distanz zwischen uns und der Hauptfigur aufzubauen. In Spielen verschmelzen wir mit der Spielfigur – dem Avatar – und übernehmen ihre Rolle. Je besser wir uns mit der Spielfigur identifizieren können, desto intensiver ist das Spielerlebnis. Viele Hersteller boten daher speziell zu Beginn, wie etwa bei Mass Effect, die Möglichkeit, eine Female Option zu wählen. Man konnte also auch als weibliche Commander Shepard spielen. Heute reicht das nicht mehr. Speziell in Rollenspielen und MMOs sehen wir deshalb ausgeklügelte Character Creators, bei denen sich die eigene Identität in Bezug auf Herkunft, Geschlecht, Präsentation und Orientierung nahezu stufenlos einstellen lässt.

Der Wandel folgt dem Geld

AAA Games–also Blockbuster Games, mit einem Entwicklungsbudget von meist über $50 Millionen und mehren Jahren Entwicklungszeit, müssen so entwickelt werden, dass sie sich in den wichtigsten Märkten gut verkaufen. Die Hersteller scheuen also Risiken. Sie versuchen aus ihren bekannten Marken viel Geld zu schlagen. Deswegen sehen wir auch schon die x-te Inkarnation von Call of Duty, Assassins Creed, Zelda usw. Der Wandel geschieht deshalb, ähnlich wie in Hollywood, langsam. Genau darum ist das oben beschriebene Indie Movement so wertvoll. Über Kickstarter und Digital Storefronts wie Steam suchen sich diese kleinen Spiele ihr Publikum direkt. Sie unterliegen also nicht Management-Entscheidungen von älteren weissen Männern, die noch immer die grossen Studios dominieren.

In Tell me Why ist zum ersten Mal ein trans Charakter die Hauptfigur in einem Mainstream Game

Hersteller richten sich vordergründig nur nach Ihren Geschäftszahlen. Das rächt sich jetzt. Eine Entlassungswelle nie dagewesenen Ausmasses überzieht aktuell die Industrie. Social Media strotzt vor Posts, dass “Gamen langweilig geworden” sei, weil sie immer wieder die gleiche Sauce aufbereiten – während neue Heldinnen an der Spitze der erfolgreichsten Spiele der letzten Jahre standen. Das macht es deutlich: Heute verlangen Konsumenten eine viel höhere Qualität bei der Representation von bislang unterrepräsentierten Gruppen. Games als Medium reifen daran, dass sie der gesellschaftlichen Kritik ebenso ausgesetzt werden wie andere Medien. Nur so werden sie inklusiver, diverser und können eine breitere Meinungsvielfalt abdecken. Zu behaupten, Spiele mit Frauen verkauften sich nicht ist somit als konsertvative Blockadehaltung entlarvt. Die Geschäftszahlen zeigen deutlich, dass Diversität heute auch mit erfolgreichem Geschäft gleichzusetzen ist. Gut so!


Dieser Text wurde erstellt als Antwort auf ein E-Mail Interview für den Blick im Dezember 2023. Das Interview drehte sich ganz spezifisch um AAA-Spiele, und nicht etwa Indie Spiele. Ich habe den Text April 2024 aktualisiert hier veröffentlicht um aktuelle Entwicklungen einzuschliessen. Die journalistisch verarbeiteten Antworten sind im Artikel Warum Frauen im Game immer noch leicht bekleidet sind von Karen Schärer erschienen.


Quellen

Anthropy, A. (2012). Rise of the videogame zinesters: How freaks, normals, amateurs, artists, dreamers, dropouts, queers, housewives, and people like you are taking back an art form. Seven Stories Press.

Statista (2021) https://www.statista.com/statistics/453634/game-developer-gender-distribution-worldwide/